Blind Date, bedingt schwül: Das dritte "Dark Room"-Projekt des Orchesters im Treppenhaus
Die Coolen behielten selbstverständlich ihre Jacken an, wenn sie mit gelangweiltem Gesichtsausdruck am Geländer in der Baggi lehnten, zu Depeche Mode und Kool & The Gang mit den Füssen zuckten, rauchten und hofften, dass der Clearasil-Abdeckstift ihre Hautunreinheiten tarnen würde. Da, wo früher die Uncoolen ihre Jacken abgegeben haben, bekommt man heute ein zusätzliches Kleidungsstück: Eine Augenmaske. Ich bin weder cool noch uncool, ich bin einfach nur alt. Aber: Ich bin ja auch nicht wegen Depeche Mode hier und nicht, um Menschen des anderen Geschlechts von meinen Vorzügen zu überzeugen, sondern um ein Orchester und eine Geschichte zu hören.
Ich setze die Augenmaske auf. Sie war schon gestern im Einsatz, um die Augen eines Besuchers zu verdecken. "Dark Room", so nennt sich die Serie, die das Orchester im Treppenhaus um den Dirigenten und musikalischen Leiter Thomas Posth in der seit mehr als 25 Jahren am Raschplatz angesiedelten Diskothek heute spielt. "Dark Room" gibt in diesem Zusammenhang keinerlei Anlass für anzügliches Augenzwinkern oder Unter-der-Gürtellinie-Witzchen: Nachdem man 2013 dem Wettrennen von Amundsen und Scott zum Nordpol beiwohnen konnte, ein Jahr später bei der Erbauung von San Francisco während des Goldrausches dabei war, steht heute ein Besuch in den Südstaaten an: "Verbotene Liebe", so heißt der dritte Teil von "Dark Room", und die Maske hat den Sinn, den Raum - wer hätte das gedacht - dunkel zu machen.
Ich lege die Hand auf die Schulter einer jungen Dame und stolpere unbeholfen hinter ihr her zu einem Liegestuhl, auf den ich mich sinken lasse. Außer diesen Liegestühlen gibt es Feldbetten und Stühle; ich bin ganz zufrieden, blind auf meinem Strandstuhl zu lümmeln und der Dinge zu harren, die da kommen mögen. Wo genau ich lümmele - keine Ahnung. Geräusche nehme ich - eines Sinnes beraubt - viel intensiver wahr als gewöhnlich. Ich höre Gesprächsfetzen, Musiker, die ihre Instrumente warm spielen, Kichern, Lachen, Husten, kurz: Eine Kakophonie aus Tönen bahnt sich den Weg zu meinen verwirrten Ohren. Ich erwarte gespannt die ersten Takte eines meiner Lieblingskomponisten, Sergej Prokofiev. Dessen Werk "Romeo und Julia" steht an, um der wahren Geschichte von Robert Eads, der Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe, den passenden akustischen Rahmen zu verleihen.
Dann, unvermittelt, verstummen alle Geräusche, die Stimmen vermurmeln, das Orchester setzt ein. Ich höre die ersten Stücke, wie gewöhnlich hervorragend gespielt, und ich höre die sonore Stimme von Thomas Kluckert. Der bekannte Synchronsprecher - oder Synchronschauspieler, als was sich die in diesem Genre Tätigen lieber selbst bezeichnen - klingt heute nicht wie Bradley Cooper oder wie Seth Rogen. Denen leiht er sonst die deutsche Stimme, aber heute ist er angenehm unprätentiös in seiner Rolle als Robert Eads. Ich lasse mich ein auf Robert, der früher Peggy Sue hieß und seit sieben Jahren endlich in dem Körper angekommen ist, der schon immer seine Bestimmung war. Sein letztes weibliches Körperteil ist die Gebärmutter - und ausgerechnet die birgt einen tödlichen Krebsherd in sich.
Ich lasse mich auch ein auf die Musik zum Ballett in der Bearbeitung von John Longstaff, auf die Themen der Montagues und der Capulets, auf die Texte von Volker Bürger und auf den überraschend guten Klang in der kreisrunden Diskothek. Brachiale Becken, triumphale Trompeten, gurrende Geigen - Posths Orchesterarbeit ist wieder einmal brillant.
Peinlich, mehr als peinlich, wenn man bei so einer Veranstaltung einschläft. Das mögen viele der Gäste befürchtet haben, genau wie ich. Mir gelingt das üblicherweise bei einer Massage, heute sind es Gottseidank nur die Füße, zu spannend ist der Fortgang der Geschichte. Lola Cola, eine Freundin, begleitet Robert Eads während seiner letzten Monate. Sie wird gesprochen von Marcus Off - der auch Johnny Depps Jack Sparrow verkörpert hat. Lola hieß früher John und war ein Mann - das Schicksal hält so manche Überraschung bereit. Der Ort des Geschehens ist der US-amerikanische Bundesstaat Georgia, die Südstaaten also. Und da schwächelt Prokofjev, leider. Denn ein Hörspiel soll ja alles transportieren, muss Assoziationen wecken, es muss nach Mississippi riechen, nach Southern Comfort schmecken. Das tut es zunächst nicht, auch wenn man sich aufgrund der verschiedenen Rollen, in die die beiden Sprecher mühelos schlüpfen, gut in die einzelnen Szenen hineinversetzen kann. Aber die Südstaaten spielen ohnehin nur eine untergeordnete Rolle in der Geschichte, es geht um die Zerrissenheit des Mannes, der eine Frau war, der eine Frau liebt, die ein Mann war - oder, um es mit Captain Jack Sparrow zu sagen: "Klar soweit?" Dann stirbt Robert. Sein letzter Wunsch ist es, seine Asche unter einer bunt geschmückten Tanne in seinem eigenen Garten verstreut zu wissen, dem Garten, in dem er als Robert und nicht als Peggy Sue glücklich war.
Bahar Stopa singt zwischendurch einen Klassiker: Der "St.-Louis-Blues" platzt mitten in die "Romeo-liebt-Julia-und-alle-kloppen-sich"-Themen. Er gelingt ihr bedingt; sie liegt manchmal einen gefühlten Viertelton daneben, aber sie hat ein großartiges Timbre, und das wiederum lässt die Südstaaten lebendig werden.
Inzwischen schwitze ich unter der Brille. Nach knapp zwei Stunden darf ich sie abnehmen und sehe Erstaunliches: Ganz nah sitzen die Mitglieder des Orchesters. Thomas Posth dirigiert mit Wucht das letzte Stück, die beiden Sprecher lächeln hinter einem Pult und nicken im Takt mit dem Kopf, ein Tannenbaum steht mitten auf der Tanzfläche. Viele Gäste setzen sich auf, reiben sich die Augen und sehen sich forschenden Blickes um: Es ist erstaunlich, was sich an Wahrnehmung transportiert, wenn ein Sinn fehlt. Die Dimensionen der Baggi wirken, wenn man sie nicht sehen kann, völlig anders. Viel größer, weitläufiger schien der Raum zu sein. Heute Abend hat die Akustik dem Gehirn offenbar einige Streiche gespielt. Dann ist es zu Ende, und es gibt langen Applaus. Die einzelnen Musiker werden gebührend bejubelt, ein erschöpfter Thomas Posth verbeugt sich und es ist geschafft. Der Dark Room ist wieder hell, und und die Seelen sind um ein Stück Leben reicher.
Ich lege die Hand auf die Schulter einer jungen Dame und stolpere unbeholfen hinter ihr her zu einem Liegestuhl, auf den ich mich sinken lasse. Außer diesen Liegestühlen gibt es Feldbetten und Stühle; ich bin ganz zufrieden, blind auf meinem Strandstuhl zu lümmeln und der Dinge zu harren, die da kommen mögen. Wo genau ich lümmele - keine Ahnung. Geräusche nehme ich - eines Sinnes beraubt - viel intensiver wahr als gewöhnlich. Ich höre Gesprächsfetzen, Musiker, die ihre Instrumente warm spielen, Kichern, Lachen, Husten, kurz: Eine Kakophonie aus Tönen bahnt sich den Weg zu meinen verwirrten Ohren. Ich erwarte gespannt die ersten Takte eines meiner Lieblingskomponisten, Sergej Prokofiev. Dessen Werk "Romeo und Julia" steht an, um der wahren Geschichte von Robert Eads, der Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe, den passenden akustischen Rahmen zu verleihen.
Dann, unvermittelt, verstummen alle Geräusche, die Stimmen vermurmeln, das Orchester setzt ein. Ich höre die ersten Stücke, wie gewöhnlich hervorragend gespielt, und ich höre die sonore Stimme von Thomas Kluckert. Der bekannte Synchronsprecher - oder Synchronschauspieler, als was sich die in diesem Genre Tätigen lieber selbst bezeichnen - klingt heute nicht wie Bradley Cooper oder wie Seth Rogen. Denen leiht er sonst die deutsche Stimme, aber heute ist er angenehm unprätentiös in seiner Rolle als Robert Eads. Ich lasse mich ein auf Robert, der früher Peggy Sue hieß und seit sieben Jahren endlich in dem Körper angekommen ist, der schon immer seine Bestimmung war. Sein letztes weibliches Körperteil ist die Gebärmutter - und ausgerechnet die birgt einen tödlichen Krebsherd in sich.
Ich lasse mich auch ein auf die Musik zum Ballett in der Bearbeitung von John Longstaff, auf die Themen der Montagues und der Capulets, auf die Texte von Volker Bürger und auf den überraschend guten Klang in der kreisrunden Diskothek. Brachiale Becken, triumphale Trompeten, gurrende Geigen - Posths Orchesterarbeit ist wieder einmal brillant.
Peinlich, mehr als peinlich, wenn man bei so einer Veranstaltung einschläft. Das mögen viele der Gäste befürchtet haben, genau wie ich. Mir gelingt das üblicherweise bei einer Massage, heute sind es Gottseidank nur die Füße, zu spannend ist der Fortgang der Geschichte. Lola Cola, eine Freundin, begleitet Robert Eads während seiner letzten Monate. Sie wird gesprochen von Marcus Off - der auch Johnny Depps Jack Sparrow verkörpert hat. Lola hieß früher John und war ein Mann - das Schicksal hält so manche Überraschung bereit. Der Ort des Geschehens ist der US-amerikanische Bundesstaat Georgia, die Südstaaten also. Und da schwächelt Prokofjev, leider. Denn ein Hörspiel soll ja alles transportieren, muss Assoziationen wecken, es muss nach Mississippi riechen, nach Southern Comfort schmecken. Das tut es zunächst nicht, auch wenn man sich aufgrund der verschiedenen Rollen, in die die beiden Sprecher mühelos schlüpfen, gut in die einzelnen Szenen hineinversetzen kann. Aber die Südstaaten spielen ohnehin nur eine untergeordnete Rolle in der Geschichte, es geht um die Zerrissenheit des Mannes, der eine Frau war, der eine Frau liebt, die ein Mann war - oder, um es mit Captain Jack Sparrow zu sagen: "Klar soweit?" Dann stirbt Robert. Sein letzter Wunsch ist es, seine Asche unter einer bunt geschmückten Tanne in seinem eigenen Garten verstreut zu wissen, dem Garten, in dem er als Robert und nicht als Peggy Sue glücklich war.
Bahar Stopa singt zwischendurch einen Klassiker: Der "St.-Louis-Blues" platzt mitten in die "Romeo-liebt-Julia-und-alle-kloppen-sich"-Themen. Er gelingt ihr bedingt; sie liegt manchmal einen gefühlten Viertelton daneben, aber sie hat ein großartiges Timbre, und das wiederum lässt die Südstaaten lebendig werden.
Inzwischen schwitze ich unter der Brille. Nach knapp zwei Stunden darf ich sie abnehmen und sehe Erstaunliches: Ganz nah sitzen die Mitglieder des Orchesters. Thomas Posth dirigiert mit Wucht das letzte Stück, die beiden Sprecher lächeln hinter einem Pult und nicken im Takt mit dem Kopf, ein Tannenbaum steht mitten auf der Tanzfläche. Viele Gäste setzen sich auf, reiben sich die Augen und sehen sich forschenden Blickes um: Es ist erstaunlich, was sich an Wahrnehmung transportiert, wenn ein Sinn fehlt. Die Dimensionen der Baggi wirken, wenn man sie nicht sehen kann, völlig anders. Viel größer, weitläufiger schien der Raum zu sein. Heute Abend hat die Akustik dem Gehirn offenbar einige Streiche gespielt. Dann ist es zu Ende, und es gibt langen Applaus. Die einzelnen Musiker werden gebührend bejubelt, ein erschöpfter Thomas Posth verbeugt sich und es ist geschafft. Der Dark Room ist wieder hell, und und die Seelen sind um ein Stück Leben reicher.
Dark Room: Am 2. und 3. Oktober in der Baggi, Eintrittspreis, wie immer beim Treppenhausorchester: Pay what you can. Reservierungen unter: [email protected]
Am 7. Oktober auf Schloss Landestrost in Neustadt, Eintritt 19, ermäßigt 13 Euro. Tickets unter www.reservix.de.
Am 7. Oktober auf Schloss Landestrost in Neustadt, Eintritt 19, ermäßigt 13 Euro. Tickets unter www.reservix.de.