(lil) Ich war die Königin der Lüfte. Die turnusmäßige Augenuntersuchung durch meinen Betriebsarzt gemäß Paragraf 6, Anhang, Teil 4, Ziffer 2 der Bildschirmarbeitsverordnung endete jedes mal nach maximal 2 Minuten mit der ärztlichen Erkenntnis: „Junge Frau, Sie haben Augen wie ein Adler“. Bei der letzten Untersuchung setzte ich mich lässig auf den Stuhl und fixierte die Tafel an der Wand – die sie offenbar heimlich nach hinten versetzt hatten, und zwar ein ganzes Stück. Schweißgebadet versuchte ich zu erraten, um welche Art von Zeichen es sich auf der Tafel überhaupt handelt. Alpha? Numerisch? Alphanumerisch womöglich? Der Betriebsarzt musterte mich eindringlich. Glaube ich zumindest; so richtig scharf konnte ich seine Augen nicht sehen. „Nun“, sagte er, „versuchen Sie es zunächst mit der Zeile ganz oben“. Was er wohl meinte, war „die Zeile mit den unglaublich riesigen Buchstaben.“
Ich wartete auf das vertraute „Junge Frau“. Er blieb still und ich verließ betreten schweigend das Betriebsarztzimmer – das Rezept für die Lesebrille stopfte ich schnell und unauffällig in meine Handtasche. Auch Augen wissen also, dass man fünfzig geworden ist. Schön ist diese Erkenntnis nicht. Denn: Hey, egal, Fünzig ist doch das neue Vierzig! Wie alt die Eltern damals waren, haha, aber wir, Jungejunge, was sind wir junggeblieben!
Vor einem halben Jahr war Abitreffen. Dreißigjähriges, aber egal, Jungejunge, was sind wir junggeblieben. Alte Abizeitungen und allerlei Fotos wurden herumgereicht, und da war noch etwas, bei fast jedem: Der Griff in die Brusttasche. Richtig. Die Brille. Damals, in der Schule, waren die Brillenträger häufig dem Gespött der anderen ausgesetzt. „Brillenschlange“ war noch der harmloseste Ausdruck, womit nicht die Bezeichnung für die südasiatische Kobra aus der Gattung der Elapidae gemeint ist. Deren lateinischer Name „Naja Naja“ lautet. Kein Scherz.
Ein Scherz hingegen ist die Tastatur meines stylishen Telefons. Ich habe es mittlerweile aufgegeben, meinen abendlichen Whatsappen entschuldigend hinzuzufügen, dass ich nicht betrunken bin. Ich schreibe weiterhin eiskalt „gallp“ – das „hallo“ der Midlife-Menschen. Niemand stellt irgendwelche Fragen. Vielmehr entwickeln sich von Zauberhand virtuelle Selbsthilfegruppen. Als neulich meine Flurlampe kaputt war, kaufte ich eine neue Birne. Beim Hineinschrauben sah ich innen in der Lampenfassung eine Schrift mit Wattangabe. Eine sehr kleine Schrift. Sehr, sehr klein. „Genau heute hatte ich dasselbe Problem. Versuch es mit einer Lupe“, schrieb Susanne in die Whatsapp-Gruppe, in die ich verzweifelt ein Foto meines neuen Leuchtmittels gepostet hatte. Nachdem ich auch bei etlichen Foto-Großzieh-Versuchen nicht erkennen konnte, ob die Funzel nun fünzig oder dreißig oder dreißigtausend Watt hat.
Am Überweisungsautomaten der Bank habe ich am Ersten des Monats eine Schlange schnappatmender Senioren hinter mir erzeugt. Selbst mit meiner neuen Brille konnte ich die Bankdaten meines Zahlungsempfängers kaum entziffern. Natürlich habe ich es – und das wiederum vereint mich mit Marilyn Monroe – vorher minutenlang mit meiner biologischen, gottgegebenen Sehkraft versucht. Die Brille und ich – wir müssen noch ein wenig daran arbeiten, Freunde zu werden. Aber wir sind auf einem guten Weg. Und warum ich mit Senioren an Überweisungsautomaten stehe, verrate ich demnächst.
Ich wartete auf das vertraute „Junge Frau“. Er blieb still und ich verließ betreten schweigend das Betriebsarztzimmer – das Rezept für die Lesebrille stopfte ich schnell und unauffällig in meine Handtasche. Auch Augen wissen also, dass man fünfzig geworden ist. Schön ist diese Erkenntnis nicht. Denn: Hey, egal, Fünzig ist doch das neue Vierzig! Wie alt die Eltern damals waren, haha, aber wir, Jungejunge, was sind wir junggeblieben!
Vor einem halben Jahr war Abitreffen. Dreißigjähriges, aber egal, Jungejunge, was sind wir junggeblieben. Alte Abizeitungen und allerlei Fotos wurden herumgereicht, und da war noch etwas, bei fast jedem: Der Griff in die Brusttasche. Richtig. Die Brille. Damals, in der Schule, waren die Brillenträger häufig dem Gespött der anderen ausgesetzt. „Brillenschlange“ war noch der harmloseste Ausdruck, womit nicht die Bezeichnung für die südasiatische Kobra aus der Gattung der Elapidae gemeint ist. Deren lateinischer Name „Naja Naja“ lautet. Kein Scherz.
Ein Scherz hingegen ist die Tastatur meines stylishen Telefons. Ich habe es mittlerweile aufgegeben, meinen abendlichen Whatsappen entschuldigend hinzuzufügen, dass ich nicht betrunken bin. Ich schreibe weiterhin eiskalt „gallp“ – das „hallo“ der Midlife-Menschen. Niemand stellt irgendwelche Fragen. Vielmehr entwickeln sich von Zauberhand virtuelle Selbsthilfegruppen. Als neulich meine Flurlampe kaputt war, kaufte ich eine neue Birne. Beim Hineinschrauben sah ich innen in der Lampenfassung eine Schrift mit Wattangabe. Eine sehr kleine Schrift. Sehr, sehr klein. „Genau heute hatte ich dasselbe Problem. Versuch es mit einer Lupe“, schrieb Susanne in die Whatsapp-Gruppe, in die ich verzweifelt ein Foto meines neuen Leuchtmittels gepostet hatte. Nachdem ich auch bei etlichen Foto-Großzieh-Versuchen nicht erkennen konnte, ob die Funzel nun fünzig oder dreißig oder dreißigtausend Watt hat.
Am Überweisungsautomaten der Bank habe ich am Ersten des Monats eine Schlange schnappatmender Senioren hinter mir erzeugt. Selbst mit meiner neuen Brille konnte ich die Bankdaten meines Zahlungsempfängers kaum entziffern. Natürlich habe ich es – und das wiederum vereint mich mit Marilyn Monroe – vorher minutenlang mit meiner biologischen, gottgegebenen Sehkraft versucht. Die Brille und ich – wir müssen noch ein wenig daran arbeiten, Freunde zu werden. Aber wir sind auf einem guten Weg. Und warum ich mit Senioren an Überweisungsautomaten stehe, verrate ich demnächst.