Meine Nachhilfeschüler duzen ihre Lehrer. Die Katharina, der Sebastian, die Mandy. Das wäre damals, als ich zu den bildungshungrigen Eleven gehört habe, undenkbar gewesen. Ich bin ehrlich gesagt heute noch nicht ganz sicher, ob Frau Zippel, die Lateinlehrerin, überhaupt einen Vornamen hatte. Oder die Chemielehrerin Frau Dr. Ruiter. Diese zerstreute Dame ist mir hauptsächlich deshalb in Erinnerung, weil man ihr nachsagte, sie jage bei ihren Experimenten regelmäßig das Chemielabor in die Luft. Ich war selbst nie dabei - Schlussfolgerungen über die Häufigkeit meiner Anwesenheit in der Schule bitte ich tunlichst zu unterlassen. Aber mir war klar, trotz aller explosiven Kunststücke, die sie drauf hatte, wäre sie nie so cool wie Q gewesen, der Tüftler in Diensten Ihrer Majestät - James Bond- oder John Cleese-Fans und Karsten von Massenbach wissen, wen ich meine.
Es gab Fächer, die erschienen mir damals reizvoll, andere wieder hielt ich für gänzlich überflüssig. Einen Dreisatz hab ich irgendwie immer hingekriegt; alles, was danach kommt, gehörte für mich in die für immer verschlossene Schublade mit den Geheimnissen der Menschheitsgeschichte.
Kurz: Ich habe nach dem von mir erfundenen selektiven System gelernt. Auch das erlebe ich bei meinen Schülern relativ oft. "Yo, Lehrer, ich kann das Alphabet, aber ich mag diese Umleute einfach nicht. Klar? Und jetzt geh mir nicht auf den Sack und bring mich rechnen bei." Bei mir war es so: Entweder ich wusste Sachen sowieso, oder sie waren es nicht wert, meine Aufmerksamkeit länger als irgend nötig von dem abzulenken, was schon damals mein Lebensinhalt war. Musik. Ich bin mit diesem meinen Halbwissen ganz gut durch die Schulzeit gekommen, denn es gab ja auch ein paar Fächer, in denen ich glänzen konnte. Deutsch, Englisch, Sport und - falsch. Denn ausgerechnet in Musik hatte ich so meine Probleme. Das lag häufig, und bitte glauben Sie mir das, nicht an mir. Es war die Schuld meines Musiklehrers.
Dr. Theodor Peine war riesenhaft groß, alt wie Methusalem und er trug eine Brille, deren Gläser dick wie Flaschenböden waren. Er stand in seinem karierten Sakko vor der Klasse und regte sich auf. Aus Gründen. Entweder jemand hatte nicht verstanden, wie reizvoll die Pentatonik ist oder warum Alexander Borodin im Adagio seiner zweiten Symphonie (in H-Dur. H-Dur!!!) so viele enharmonische Verwechslungen verwendet. Oder ein Bay-City-Rollers-Sticker auf der Jutetasche eines der Mädchen passte ihm nicht - es war im Grunde egal, Dr. Peine regte sich vermutlich einfach nur gern auf. Dabei nahm seine Gesichtsfarbe eine Rottönung an, die mit dem Grad seiner Erregung immer stärker wurde. Leicht rosé, tomatenketchuprot, feuerrot - das waren die üblichen Abstufungen. Ich habe es geschafft, ihm ein Burgunderrot abzuringen. Meine Mitschüler und ich duckten uns unter die Tische, als wir es bemerkten, in der Angst, Peines Kopf würde explodieren und dessen Inhalt würde sich über den gesamten Klassenraum verteilen.
Die Stunde begann wie immer. Dr. Peine kam ins Klassenzimmer geeilt - er eilte immer, denn, wie wir alle wussten, sein Nebenjob war anstrengend und zeitintensiv. Er spielte die Orgel in der Marktkirche, "die GROßE, Herrschaften, wenn ich bitten darf", und er musste ständig zu irgendwelchen Besprechungen oder Proben oder ... als ob die Stunde schneller vorbei wäre, wenn man schneller spricht.
Üblicherweise knallte er einen Stapel mit Notenheften auf einen leeren Tisch, grunzte "verteilen", wobei er niemanden bestimmtes meinte, marschierte beflügelten Schrittes zum Lehrerpult, wo ein Schallplattenspieler älteren Semesters stand und zog mit Daumen und Zeigefinger (schauderhafte Vorstellung) eine Platte aus dem Cover. Dann drückte er sie irgendwie in die Mitte des Plattenspielers, setzte die Nadel mit der Hand darauf und wir verbrachten den Rest der Stunde damit, berühmte Stücke berühmter Komponisten zu hören und gleichzeitig die Noten zu lesen.
In der Schule hatten wir nie Notenunterricht; dazu war sich Dr. Theodor Peine womöglich zu schade. Er ging einfach davon aus, dass man sowas können muss. So wie essen oder atmen. Sagen wir so: Die Leute, die a: Noten lesen konnten und b: interessiert genug waren, dem Musikstück zu folgen, konnte man am Daumen einer Hand abzählen. Kleiner Tipp: Fängt mit K an und hört mit rowie auf. Für die Musiker: Wenn ich geblättert habe, gab es ein höchst erfreuliches Delay, denn relativ zügig blätterten dann meine Nebenleute, und bis es der letzte in der letzten Reihe mitgekriegt hatte, war es schon wieder Zeit zum Blättern.
Lustig. Aber das ist nicht die Geschichte, die ich erzählen wollte. Denn Dr. Peine erzählte auch gern Anekdoten aus dem Leben berühmter Leute - wahrscheinlich war er bei den meisten selbst dabei. Ich mag gute Kurzgeschichten (haha), aber Peines waren noch nicht einmal ansatzweise spannend, weil er sie stets mit erhobenem Zeigefinger erzählt hat. Und weil sie viel zu lang waren.
Es gab Fächer, die erschienen mir damals reizvoll, andere wieder hielt ich für gänzlich überflüssig. Einen Dreisatz hab ich irgendwie immer hingekriegt; alles, was danach kommt, gehörte für mich in die für immer verschlossene Schublade mit den Geheimnissen der Menschheitsgeschichte.
Kurz: Ich habe nach dem von mir erfundenen selektiven System gelernt. Auch das erlebe ich bei meinen Schülern relativ oft. "Yo, Lehrer, ich kann das Alphabet, aber ich mag diese Umleute einfach nicht. Klar? Und jetzt geh mir nicht auf den Sack und bring mich rechnen bei." Bei mir war es so: Entweder ich wusste Sachen sowieso, oder sie waren es nicht wert, meine Aufmerksamkeit länger als irgend nötig von dem abzulenken, was schon damals mein Lebensinhalt war. Musik. Ich bin mit diesem meinen Halbwissen ganz gut durch die Schulzeit gekommen, denn es gab ja auch ein paar Fächer, in denen ich glänzen konnte. Deutsch, Englisch, Sport und - falsch. Denn ausgerechnet in Musik hatte ich so meine Probleme. Das lag häufig, und bitte glauben Sie mir das, nicht an mir. Es war die Schuld meines Musiklehrers.
Dr. Theodor Peine war riesenhaft groß, alt wie Methusalem und er trug eine Brille, deren Gläser dick wie Flaschenböden waren. Er stand in seinem karierten Sakko vor der Klasse und regte sich auf. Aus Gründen. Entweder jemand hatte nicht verstanden, wie reizvoll die Pentatonik ist oder warum Alexander Borodin im Adagio seiner zweiten Symphonie (in H-Dur. H-Dur!!!) so viele enharmonische Verwechslungen verwendet. Oder ein Bay-City-Rollers-Sticker auf der Jutetasche eines der Mädchen passte ihm nicht - es war im Grunde egal, Dr. Peine regte sich vermutlich einfach nur gern auf. Dabei nahm seine Gesichtsfarbe eine Rottönung an, die mit dem Grad seiner Erregung immer stärker wurde. Leicht rosé, tomatenketchuprot, feuerrot - das waren die üblichen Abstufungen. Ich habe es geschafft, ihm ein Burgunderrot abzuringen. Meine Mitschüler und ich duckten uns unter die Tische, als wir es bemerkten, in der Angst, Peines Kopf würde explodieren und dessen Inhalt würde sich über den gesamten Klassenraum verteilen.
Die Stunde begann wie immer. Dr. Peine kam ins Klassenzimmer geeilt - er eilte immer, denn, wie wir alle wussten, sein Nebenjob war anstrengend und zeitintensiv. Er spielte die Orgel in der Marktkirche, "die GROßE, Herrschaften, wenn ich bitten darf", und er musste ständig zu irgendwelchen Besprechungen oder Proben oder ... als ob die Stunde schneller vorbei wäre, wenn man schneller spricht.
Üblicherweise knallte er einen Stapel mit Notenheften auf einen leeren Tisch, grunzte "verteilen", wobei er niemanden bestimmtes meinte, marschierte beflügelten Schrittes zum Lehrerpult, wo ein Schallplattenspieler älteren Semesters stand und zog mit Daumen und Zeigefinger (schauderhafte Vorstellung) eine Platte aus dem Cover. Dann drückte er sie irgendwie in die Mitte des Plattenspielers, setzte die Nadel mit der Hand darauf und wir verbrachten den Rest der Stunde damit, berühmte Stücke berühmter Komponisten zu hören und gleichzeitig die Noten zu lesen.
In der Schule hatten wir nie Notenunterricht; dazu war sich Dr. Theodor Peine womöglich zu schade. Er ging einfach davon aus, dass man sowas können muss. So wie essen oder atmen. Sagen wir so: Die Leute, die a: Noten lesen konnten und b: interessiert genug waren, dem Musikstück zu folgen, konnte man am Daumen einer Hand abzählen. Kleiner Tipp: Fängt mit K an und hört mit rowie auf. Für die Musiker: Wenn ich geblättert habe, gab es ein höchst erfreuliches Delay, denn relativ zügig blätterten dann meine Nebenleute, und bis es der letzte in der letzten Reihe mitgekriegt hatte, war es schon wieder Zeit zum Blättern.
Lustig. Aber das ist nicht die Geschichte, die ich erzählen wollte. Denn Dr. Peine erzählte auch gern Anekdoten aus dem Leben berühmter Leute - wahrscheinlich war er bei den meisten selbst dabei. Ich mag gute Kurzgeschichten (haha), aber Peines waren noch nicht einmal ansatzweise spannend, weil er sie stets mit erhobenem Zeigefinger erzählt hat. Und weil sie viel zu lang waren.
Es ging im Unterricht um Tonarten. "Tonika, Dominante, Subdominante, Parallel Moll"...welche Tonfolge erzeugt welche Stimmung bla bla bla ... Dr. Peine konnte auch dieses hochspannende Thema zerreden. Und dann kam er mit einer seiner Geschichten. "Eines Abends saß Mozarts Vater mit einem Freund am Flügel und sie spielten Etüden." Ein Flügel im Wohnzimmer gehörte für Dr. Peine eben immer dazu. "Und der Freund endete seinen Vortrag mit einer Subdominante." Er machte eine bedeutungsschwangere Pause und erntete verständnislose Blicke. "Und Mozart, der kleine Mozart" - der ein Wunderkind war, was auch der ignoranteste meiner Mitschüler wusste - "musste aus einem inneren Zwang heraus aus dem Bett aufstehen, zum Flügel gehen und die Schlusstonika spielen."
Was Dr. Peine an Reaktionen auf diese Geschichte erwartete, weiß ich nicht. Vermutlich Bravorufe oder sowas wie "Hört hört" - die Klasse machte weiter wie zuvor. Mit Popeln, Briefe schreiben, aus dem Fenster sehen, hoffen, dass jemand vom Stuhl fällt - das Übliche. Nur Krowie nicht. Ich sagte gelangweilt: "Das hätt' ich wohl auch gemacht. Klingt doch sonst scheiße."
Verzückt beobachtete die Klasse, wie die Gesichtsfarbe des Dr. Theodor Peine schließlich zu Burgunderrot wurde. Das brachte mir einen legendären Eintrag ins Klassenbuch ein. "Herr Krowas vergleicht sich mit Mozart", schrieb Dr. Peine. Und gab mir den Rat, später bloß niemals einen Beruf zu ergreifen, der irgend etwas mit Musik zu tun hat. Und, habe ich auf ihn gehört?
Was Dr. Peine an Reaktionen auf diese Geschichte erwartete, weiß ich nicht. Vermutlich Bravorufe oder sowas wie "Hört hört" - die Klasse machte weiter wie zuvor. Mit Popeln, Briefe schreiben, aus dem Fenster sehen, hoffen, dass jemand vom Stuhl fällt - das Übliche. Nur Krowie nicht. Ich sagte gelangweilt: "Das hätt' ich wohl auch gemacht. Klingt doch sonst scheiße."
Verzückt beobachtete die Klasse, wie die Gesichtsfarbe des Dr. Theodor Peine schließlich zu Burgunderrot wurde. Das brachte mir einen legendären Eintrag ins Klassenbuch ein. "Herr Krowas vergleicht sich mit Mozart", schrieb Dr. Peine. Und gab mir den Rat, später bloß niemals einen Beruf zu ergreifen, der irgend etwas mit Musik zu tun hat. Und, habe ich auf ihn gehört?