(mik) Mein Großvater war ein stiller Mann. Ich kann mich nicht erinnern, ihn je mehr als einen Satz am Stück sprechen gehört zu haben. Ich kann mich allerdings an seinen Geruch erinnern, wenn wir meinen Großeltern am Sonntag einen Besuch abgestattet haben. Oma und Opa lebten in einem wirklich kleinen Dorf in der Nähe von Hannover. Und in der Nähe von Celle, um ehrlich zu sein. Also sozusagen zwischen zwei Metropolen. Und sie waren alt, ur-uralt - also etwa so alt wie ich jetzt. Mein Opa war wahrscheinlich an der Erfindung des Rades beteiligt, und meine winzige Oma - nun ja, sie bestand irgendwie nur aus Knitter und Kittelschürze.
Im ganzen Haus duftete es nach Erdbeerkuchen, den meine Oma traditionell gemacht hatte. Und nach selbst eingelegtem Sauerkraut, das in einem Fass im muffigen Keller lagerte. Im ganzen Haus? Nein. Ein kleiner Raum leistete den Duftschwaden energischen Widerstand: die „Gute Stube“. Die gute Stube war das Wohnzimmer; sie war unserem sonntäglichen Besuch vorbehalten. Ansonsten blieb die Tür zur Guten Stube verschlossen; das gesellschaftliche Leben meiner Großeltern spielte sich in der Küche, im Keller und im Garten ab.
Sobald wir angekommen waren, und sobald der Kleinwagen meiner Eltern halbwegs zum Stillstand gekommen war, schossen wir Kinder wie zwei geölte Blitze ins Haus. „Oma, hast du Sauerkraut?“, pflegte meine Schwester zu rufen, „Oma, hast du Erdbeeren“, krähte ich, noch während meine Großmutter die Tür öffnete. Wir drängten uns an beiden vorbei, an Oma Ida in ihrer unvermeidlichen geblümten Kittelschürze, an Opa Paul in irgendwas mit Lederweste, meine Schwester auf direktem Weg in den Keller, ich zum Schrank in der Küche, wo die jeweiligen kulinarischen Verlockungen wie erhofft warteten – immer warteten.
Bis meine Eltern ihre Eltern gebührend begrüßt hatten, hatten wir Kinder die erste Gier bereits gestillt. Ich hatte das erste Stück Erbeerkuchen direkt aus der Hand verschlungen, meine Schwester tat Ähnliches mit ihrer Portion Sauerkraut. Es war das Paradies. Dann begann das rituelle Kaffeetrinken mit dem Öffnen der Tür zur Guten Stube. Das Paradies schrumpfte.
Kalter, abgestandener Zigarrengeruch und in der Nase beißendes Waschmittel, das war der vorherrschende Geruch in diesem mit dunklen Holz eingerichteten Raum. Höchstens einmal in der Woche wurde er geöffnet, freigegeben für die Familie aus der Stadt. Die schweren Brokatvorhänge wurden zurückgezogen, das gute Geschirr (mit dem Goldrand) wurde auf den Tisch gestellt, und wir nahmen Platz auf den ungemütlichen Stühlen, um dem gemeinsamen Kaffeetafelritual zu frönen.
Später, sehr viel später, wie es mir Pöks immer vorkam, sagte mein Großvater immer einen seiner wenigen Sätze. Die mir deshalb in Erinnerung geblieben sind, weil er eben so wenig sagte.
„Wenn ich wo wär', ich tät' jetzt gehen“, beispielsweise. Das nenne ich mal einen famosen Satz: Es blieben keinerlei Fragen offen. Wenn dennoch jemand gezögert hatte, das als Aufforderung, den Heimweg anzutreten, zu verstehen, fügte mein Opa noch einen zweiten Satz hinzu – sein äußerster Gipfel an Rhetorik. „Da, wo du jetzt sitzt, da leg' ich sonst immer meine Unterhose hin“, knurrte er in seinen Schnurrbart. Spätestens jetzt war allen klar, dass es Zeit war, aufzubrechen – höchste Zeit.
Seit gestern bin ich übrigens ebenfalls Großvater – na ja, fast Großvater, also dreiviertel Großvater vielleicht. Die Tochter meiner Lebensgefährtin bekam ein Kind. Und ich werde die kommenden Jahre damit verbringen, meine Rhetorik zu reduzieren und mir nachhaltige Sätze für Matilda einfallen zu lassen. Und nachhaltige Gerüche.
Im ganzen Haus duftete es nach Erdbeerkuchen, den meine Oma traditionell gemacht hatte. Und nach selbst eingelegtem Sauerkraut, das in einem Fass im muffigen Keller lagerte. Im ganzen Haus? Nein. Ein kleiner Raum leistete den Duftschwaden energischen Widerstand: die „Gute Stube“. Die gute Stube war das Wohnzimmer; sie war unserem sonntäglichen Besuch vorbehalten. Ansonsten blieb die Tür zur Guten Stube verschlossen; das gesellschaftliche Leben meiner Großeltern spielte sich in der Küche, im Keller und im Garten ab.
Sobald wir angekommen waren, und sobald der Kleinwagen meiner Eltern halbwegs zum Stillstand gekommen war, schossen wir Kinder wie zwei geölte Blitze ins Haus. „Oma, hast du Sauerkraut?“, pflegte meine Schwester zu rufen, „Oma, hast du Erdbeeren“, krähte ich, noch während meine Großmutter die Tür öffnete. Wir drängten uns an beiden vorbei, an Oma Ida in ihrer unvermeidlichen geblümten Kittelschürze, an Opa Paul in irgendwas mit Lederweste, meine Schwester auf direktem Weg in den Keller, ich zum Schrank in der Küche, wo die jeweiligen kulinarischen Verlockungen wie erhofft warteten – immer warteten.
Bis meine Eltern ihre Eltern gebührend begrüßt hatten, hatten wir Kinder die erste Gier bereits gestillt. Ich hatte das erste Stück Erbeerkuchen direkt aus der Hand verschlungen, meine Schwester tat Ähnliches mit ihrer Portion Sauerkraut. Es war das Paradies. Dann begann das rituelle Kaffeetrinken mit dem Öffnen der Tür zur Guten Stube. Das Paradies schrumpfte.
Kalter, abgestandener Zigarrengeruch und in der Nase beißendes Waschmittel, das war der vorherrschende Geruch in diesem mit dunklen Holz eingerichteten Raum. Höchstens einmal in der Woche wurde er geöffnet, freigegeben für die Familie aus der Stadt. Die schweren Brokatvorhänge wurden zurückgezogen, das gute Geschirr (mit dem Goldrand) wurde auf den Tisch gestellt, und wir nahmen Platz auf den ungemütlichen Stühlen, um dem gemeinsamen Kaffeetafelritual zu frönen.
Später, sehr viel später, wie es mir Pöks immer vorkam, sagte mein Großvater immer einen seiner wenigen Sätze. Die mir deshalb in Erinnerung geblieben sind, weil er eben so wenig sagte.
„Wenn ich wo wär', ich tät' jetzt gehen“, beispielsweise. Das nenne ich mal einen famosen Satz: Es blieben keinerlei Fragen offen. Wenn dennoch jemand gezögert hatte, das als Aufforderung, den Heimweg anzutreten, zu verstehen, fügte mein Opa noch einen zweiten Satz hinzu – sein äußerster Gipfel an Rhetorik. „Da, wo du jetzt sitzt, da leg' ich sonst immer meine Unterhose hin“, knurrte er in seinen Schnurrbart. Spätestens jetzt war allen klar, dass es Zeit war, aufzubrechen – höchste Zeit.
Seit gestern bin ich übrigens ebenfalls Großvater – na ja, fast Großvater, also dreiviertel Großvater vielleicht. Die Tochter meiner Lebensgefährtin bekam ein Kind. Und ich werde die kommenden Jahre damit verbringen, meine Rhetorik zu reduzieren und mir nachhaltige Sätze für Matilda einfallen zu lassen. Und nachhaltige Gerüche.