In letzter Zeit muss ich gar keine eigenen Geschichten mehr erleben. Denn jedes mal, wenn ich mit meiner alten Freundin einen Kaffee trinke, bekommt sie früher oder später diesen ganz bestimmten Gesichtsausdruck. Dann weiß ich, sie fängt gleich an, auf ihre unnachahmliche Art eine ihrer Stories zu erzählen. Ich muss also nur zuhören und an den richtigen Stellen lachen. Meist sage ich so etwas wie „Du meine Güte, wirklich?“ und muss diese Geschichte danach nur noch aufschreiben. Nun denn:
Sie sei, erzählte meine Freundin, vor Jahren allein zu Hause gewesen. Damals lebte sie in einem Haus, das am Waldrand recht allein vor sich hin stand. Im Gegensatz zu meiner Freundin, die zu der Zeit frisch verheiratet und frisch verliebt war. Ihr Mann war und ist passionierter Jäger; er war im Wald unterwegs und ist demnach raus aus der Geschichte.
Sie stand in der Küche, erzählte meine Freundin, und sie war dabei, sich einen Tee zu machen, als es an der Tür klopfte. Die Tür des Hauses war zum größten Teil aus Glas. Überhaupt habe das alte Haus haufenweise sehr schöne große Glasfenster gehabt. Die Aussicht sei phänomenal gewesen, sagte meine Freundin, sie habe sich gefühlt wie die Hexe im Knusperhäuschen. Um sie herum nichts als Wald und Grün und Natur. Und eben der Mann, der geklopft hatte. Sie sah ihn vor ihrer gläsernen Haustür stehen, groß, dunkel gekleidet, bewegungslos. Er trug einen Korb in seiner Hand. „Nicht etwa einen Weidenkorb oder ähnliches, sondern einen Einkaufskorb aus Draht. Total leer“, erklärte mir die Freundin. In seiner anderen Hand befand sich – ein Messer. Ein sehr großes Messer.
Nun kann meine Freundin hervorragend malen; überhaupt ist sie den schönen Künsten sehr zugeneigt. Kampfkunst oder dergleichen gehört eher nicht zu ihren Stärken. Der Mann hatte sich noch immer nicht bewegt. Sie geriet in Panik. Sie griff zum Handy, um die Polizei anzurufen. „Nie, niemals ist mein Akku leer“, erzählte sie, „nur dieses eine Mal. Sowas von leer.“ Sie rannte im Haus umher, um das Festnetztelefon zu finden, das sie wie immer irgendwo hingelegt hatte, weil „ich das Ding sowieso nie benutze.“ Der Mann folgte ihr von Fenster zu Fenster, sah ihr mit durchdringendem Blick zu und schwenkte das Messer.
Kein Handy, kein Festnetz und vor dem Haus ein psychopathischer Massenmörder. „Was blieb mir übrig“, fragte meine Freundin. Sie schoss zur Hintertür hinaus, setzte sich in ihr Auto, ließ den Motor an und wollte flüchten. Plötzlich erschien der Mann vor ihrem Wagen, stellte sich davor und fuchtelte mit dem Messer.
„Ich war so kurz davor, los zu fahren“, sagte meine Freundin, „so kurz.“ Sie bildete mit zwei Fingern ein wirklich kleines Symbol. „Aber man kann doch nicht einfach einen Menschen überfahren.“ Sie sprang also kreischend aus ihrem Auto, um – tja, um was eigentlich zu tun? „Keine Ahnung“, gab meine Freundin zu. In dem Moment kam ihr Mann mit seinem Auto auf das Grundstück gefahren. „In solchen Momenten bin ich ganz froh über die Rollenverteilung innerhalb der Geschlechter“, gab sie zu. Gewehr gegen Messer, irgendwie sinnvoller als Messer gegen leeren Akku – ihr Weltbild war wieder hergestellt.
Nun stellte sich heraus, dass der Mann nicht etwa unterwegs war, um Waldbewohner zu meucheln, sondern ein Stadtmensch, der sich beim Pilzesuchen verlaufen hatte. „Völlig dehydriert, total nett und dankbar für das Glas Wasser, das ihm mein Mann anbot“, erinnerte sich meine Freundin.
Was diese Geschichte aber so besonders macht, ist das Gespräch, das ihr vorausging, gestern, beim Kaffee. Wir sprachen über dies und das, und ich berichtete von einer Bekannten, die ebenfalls sehr kunstaffin ist. „Was macht die denn“, fragte meine Freundin, und ich antwortete völlig unbedarft: „Das ist die Frau von Sascha.“
„Sexist! Macho! Unglaublich!“ wetterte meine Freundin, „also das ist doch mal wieder typisch Mann. Ihr denkt doch immer noch in den alten Klischees. Was sie macht, habe ich gefragt, Mensch, nicht, wer ihr Kerl ist. Eine Frau ist nicht ad definitionem die Frau von irgendeinem Typen …“ und so weiter und so weiter. Ich schämte mich wie verrückt. Andererseits wäre meine Freundin, wenn ihr Typ nicht rechtzeitig gekommen wäre, heute wegen fahrlässiger oder vorsätzlicher Irgendwas im Gefängnis. Und dann hätte die Geschichte schon in der Zeitung gestanden.
Sie sei, erzählte meine Freundin, vor Jahren allein zu Hause gewesen. Damals lebte sie in einem Haus, das am Waldrand recht allein vor sich hin stand. Im Gegensatz zu meiner Freundin, die zu der Zeit frisch verheiratet und frisch verliebt war. Ihr Mann war und ist passionierter Jäger; er war im Wald unterwegs und ist demnach raus aus der Geschichte.
Sie stand in der Küche, erzählte meine Freundin, und sie war dabei, sich einen Tee zu machen, als es an der Tür klopfte. Die Tür des Hauses war zum größten Teil aus Glas. Überhaupt habe das alte Haus haufenweise sehr schöne große Glasfenster gehabt. Die Aussicht sei phänomenal gewesen, sagte meine Freundin, sie habe sich gefühlt wie die Hexe im Knusperhäuschen. Um sie herum nichts als Wald und Grün und Natur. Und eben der Mann, der geklopft hatte. Sie sah ihn vor ihrer gläsernen Haustür stehen, groß, dunkel gekleidet, bewegungslos. Er trug einen Korb in seiner Hand. „Nicht etwa einen Weidenkorb oder ähnliches, sondern einen Einkaufskorb aus Draht. Total leer“, erklärte mir die Freundin. In seiner anderen Hand befand sich – ein Messer. Ein sehr großes Messer.
Nun kann meine Freundin hervorragend malen; überhaupt ist sie den schönen Künsten sehr zugeneigt. Kampfkunst oder dergleichen gehört eher nicht zu ihren Stärken. Der Mann hatte sich noch immer nicht bewegt. Sie geriet in Panik. Sie griff zum Handy, um die Polizei anzurufen. „Nie, niemals ist mein Akku leer“, erzählte sie, „nur dieses eine Mal. Sowas von leer.“ Sie rannte im Haus umher, um das Festnetztelefon zu finden, das sie wie immer irgendwo hingelegt hatte, weil „ich das Ding sowieso nie benutze.“ Der Mann folgte ihr von Fenster zu Fenster, sah ihr mit durchdringendem Blick zu und schwenkte das Messer.
Kein Handy, kein Festnetz und vor dem Haus ein psychopathischer Massenmörder. „Was blieb mir übrig“, fragte meine Freundin. Sie schoss zur Hintertür hinaus, setzte sich in ihr Auto, ließ den Motor an und wollte flüchten. Plötzlich erschien der Mann vor ihrem Wagen, stellte sich davor und fuchtelte mit dem Messer.
„Ich war so kurz davor, los zu fahren“, sagte meine Freundin, „so kurz.“ Sie bildete mit zwei Fingern ein wirklich kleines Symbol. „Aber man kann doch nicht einfach einen Menschen überfahren.“ Sie sprang also kreischend aus ihrem Auto, um – tja, um was eigentlich zu tun? „Keine Ahnung“, gab meine Freundin zu. In dem Moment kam ihr Mann mit seinem Auto auf das Grundstück gefahren. „In solchen Momenten bin ich ganz froh über die Rollenverteilung innerhalb der Geschlechter“, gab sie zu. Gewehr gegen Messer, irgendwie sinnvoller als Messer gegen leeren Akku – ihr Weltbild war wieder hergestellt.
Nun stellte sich heraus, dass der Mann nicht etwa unterwegs war, um Waldbewohner zu meucheln, sondern ein Stadtmensch, der sich beim Pilzesuchen verlaufen hatte. „Völlig dehydriert, total nett und dankbar für das Glas Wasser, das ihm mein Mann anbot“, erinnerte sich meine Freundin.
Was diese Geschichte aber so besonders macht, ist das Gespräch, das ihr vorausging, gestern, beim Kaffee. Wir sprachen über dies und das, und ich berichtete von einer Bekannten, die ebenfalls sehr kunstaffin ist. „Was macht die denn“, fragte meine Freundin, und ich antwortete völlig unbedarft: „Das ist die Frau von Sascha.“
„Sexist! Macho! Unglaublich!“ wetterte meine Freundin, „also das ist doch mal wieder typisch Mann. Ihr denkt doch immer noch in den alten Klischees. Was sie macht, habe ich gefragt, Mensch, nicht, wer ihr Kerl ist. Eine Frau ist nicht ad definitionem die Frau von irgendeinem Typen …“ und so weiter und so weiter. Ich schämte mich wie verrückt. Andererseits wäre meine Freundin, wenn ihr Typ nicht rechtzeitig gekommen wäre, heute wegen fahrlässiger oder vorsätzlicher Irgendwas im Gefängnis. Und dann hätte die Geschichte schon in der Zeitung gestanden.