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MICHAEL KROWAS

Der moderne Mann

20/4/2018

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(mik) Der Frühling hat – wie jede Jahreszeit – seine ganz eigenen Gerüche. Jetzt gerade, in der Woche, in der sich das Grün geradezu im Zeitraffer an den Ästen materialisiert, duftet es überall verheißungsvoll nach ... na ja, nach Frühling eben. In die Gerüche von frischem Laub und von Blüten mischen sich jedoch zuweilen auch andere, eher frühlingsfremde Dünste. Heute, auf dem Nachhauseweg, roch ich zum ersten Mal in diesem Jahr Holzkohle. Glühende Holzreste, gemischt mit dem penetranten Duft nach leicht entzündlichen künstlichen Zusätzen oder, wahlweise, mit dem Aroma von mariniertem Grillgut – nicht einmal der moderne Großstadtmensch könnte das im Laufe eines Jahres vergessen.


Eigentlich schnupperte ich nicht, ich witterte, denn an dieser Stelle mutiert der Mann zum Urzeitvorfahren. Er wartet gespannt an der Feuerquelle (selbst entzündet) auf seine Nahrung (nicht selbst erlegt). Er philosophiert über die richtige Methode des Röstens, über die idealen Beilagen zum Schmaus oder über die geeigneten Werkzeuge für perfekte Wendemanöver auf dem Grill – wobei es während des Rituals völlig egal ist, ob es der von Weber oder der für 'n Zehner aus dem Baumarkt ist – an ist an. In entspannter Atmosphäre, oft in spontanen Zusammenkünften verschlingt man genüsslich schmatzend, je nach Gesellschaft oder Alkoholpegel auch grunzend, den Teller vor Feinden schützend, sein Mahl, bis wirklich nichts mehr reinpasst in den modernen Magen. Die Restglut lädt hernach zum Verweilen ein. Gebannt starrt man in die vor sich hin glühenden, mit weißer Asche bedeckten ehemaligen Briketts und sinniert über das Wetter, „es ist ja immer noch total warm.“, verflucht blutsaugende Insekten, „jetzt guck dir dieses Ei an“, und merkt erst, wenn man in der fortschreitenden Dunkelheit sein Gegenüber nicht mehr erkennen kann, dass es Zeit geworden ist, schlafen zu gehen. „Ach du meine Güte, schon zehn?“ 


Diese Pausen auf eigenen Balkonen oder fremden Terrassen lassen mich gewissermaßen Abschied nehmen vom Leben des modernen Menschen. Gerade klingelte das Telefon. Ob ich Lust und Zeit hätte, morgen Abend, ein paar Freunde, einige Sixpacks, Steaks, Kohle und Grillen. Und ob ich die Gitarre mitbrächte. Der Neanderthaler in mir schlägt vor lauter Vorfreude schon die Feuersteine zusammen. ​
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Notfallzettel

17/4/2018

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(mik) Einer meiner Freunde ist Maschinenbauer. Ich habe, ehrlich gesagt, nur ziemlich vage Vorstellungen davon, was das eigentlich ist. Baut er Sägen oder Dieselmotoren – man weiß es nicht. Wir unterhielten uns neulich nicht über die Geheimnisse technischer Berufe, die mir als Journalist naturgemäß fern liegen, wir sprachen über gemeinsame Bekannte. Es ging um jemanden, der Fachmann für Elektroanlagen geworden ist. Mein Freund sagte mir, er kenne dessen Schwester noch aus der Schule. Sie habe dort – um es freundlich auszudrücken – größtenteils wenig Lust auf Lernen im Allgemeinen gezeigt. Und ob ich wüsste, was sie jetzt macht.

Zufällig traf ich eben diesen Elektroanlagenbauer kurze Zeit später und erinnerte mich an die Frage. 
„Sie ist Urologin geworden“, beschied der mich, und er fuhr fort, „ich habe einen Notfallzettel mit ihrem Namen im Portemonnaie. Und noch ein paar ...“, seine Stimme wurde unverständlich. Ich bohrte nach. „Auf dem Zettel steht, wenn mir mal irgendwas zustößt, das in Richtung urologisches Problem geht, möchte ich bitte auf keinen Fall von dieser Ärztin behandelt werden.“
Das ist soweit klar. Seine Beweggründe haben in diesem Fall sicher nichts mit mangelhaften Schulleistungen zu tun, eher damit, dass sich Familienmitglieder nicht gegenseitig in Körperöffnungen schauen sollten – wobei es 'schauen' wohl nicht ansatzweise trifft. 


Ich überlegte. Meine Schwester ist ebenfalls Journalistin, hat aber früher mal als Arzthelferin gearbeitet. Was würde ich im Falle eins Falles auf meinen Notfallzettel schreiben? „Wenn du es noch kannst, bitte ich dich, mich zu reanimieren. Wenn nicht, schreib wenigstens einen wohlwollenden, völlig übertriebenen Nachruf.“ Nun ja. Vielleicht reichen ja in meinem Portemonnaie auch der Blutspendepass und der Organspenderausweis.
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Immer nur leben

5/4/2018

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(lil)  Als ich neulich fünfzig geworden bin, fing diese neue Ära an. Die Zeit, in der man in Parfümerien an der Kasse ungefragt Cremeproben für die „reife Haut“ in die Tüte gelegt bekommt (wobei man sich viel mehr über das neue aphrodisierende Parfümpröbchen der Firma xy gefreut hätte). Die Zeit, in der sich die Männer der Freundinnen zwischen Harley, Oldtimer, Porsche oder Blondine entscheiden. Die Zeit, in der man feststellt, dass hinter einem eindeutig mehr Jahre liegen als vor einem. In der man sich fragt: Das soll also schon alles gewesen sein? So sehr man den Bauch einzieht und sich in der Muckibude quält: In gewissen Situationen sieht sich das geneigte Gegenüber mit den Niagarafällen konfrontiert. Weil das Bindegewebe irgendwann zum Arschloch mutiert. Da helfen auch die gut gemeinten Cremes der freundlichen Kassiererin nicht.
​
​
Seit ungefähr fünf Jahren feiere ich fünfzigste Geburtstage meiner Freundinnen und Freunde. Die männlichen Freunde neigen eher dazu, an diesem Termin zu verreisen (mit ihrer Harley, dem Oldtimer, dem Porsche oder, heimlich, mit der Blondine). Einer meiner besten Freunde hatte seinen 50sten lange geplant und lud dann wieder aus, weil kurz davor die jahrzehntelange Beziehung endete und ihm nicht nach Feiern zumute war. Nicht einer dieser fünfzigsten Geburtstage glich einem anderen. Ich war auf einer rauschenden Party mit 200 Gästen, ich feierte einen fünfzigsten Geburtstag in einem Vereinsheim bei schlimmer OP-Saal-Beleuchtung, an dem die Protagonistin um 21.00 Uhr lallend zu Boden ging – und dort blieb. Das wiederum erleichterte mir das Verdrücken. Bei einem anderen sangen die vier angeheirateten Kinder meiner Freundin ein rührendes Ständchen und ich traf Leute, die ich seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Einen weiteren feierten wir bei einer englischen Teezeremonie. Und vor gerade mal einer Woche saßen wir im kleinen Kreis in einem Yogazentrum und sangen nach einer wunderbaren Yogastunde und indischem köstlichen Essen beseelt Lieder für das Geburtstagskind. Ich selbst habe mich vor einem Jahr für eine Party entschieden, die ich fast ein Jahr lang geplant hatte. Mit dem Ergebnis, dass ich an meinem Ehrentag todkrank wurde (Freund Murphy muss wohl mit dem Bindegewebe unter einer Decke stecken). Ich habe dennoch tapfer durchgehalten und spät in der Nacht mit dem gewohnten harten Kern die Location abgeschlossen – man wird nur einmal fünfzig.

Fünfzig ist irgendwie komisch. Die „früher“-Geschichten nehmen zu. Gespräche über Hormon-Präparate kommen bei den Weiberabenden auf – nicht etwa über den Faux Pas von letzter Nacht – wie vor nicht allzu langer Zeit. Ein bisschen Wehmut schleicht sich ein. Ich stehe neben meiner Tochter und denke: Ja, daran kann ich mich erinnern. Pfirsichhaut und so. Aber möchte ich wirklich wieder twentysomething sein? Das war eine tolle Zeit, keine Frage. Unsterblich waren wir. Wir brauchten keinen Schlaf – völlig überschätzt. Partys, Kicher- und Knutschgeschichten, irgendwo in der Zukunftsvision der Mann auf dem weißen Gaul, der einem in Zeitlupe am Strand entgegen geritten kommt. Alles garniert mit einer Prise gut gemeinter elterlicher Ratschläge, Selbstzweifel, finanzieller Herausforderungen und den ersten traurigen Erfahrungen an Gräbern von geliebten Menschen, die einem vor Augen führten, dass das Leben sehr wohl endlich ist. Und man irgendwann erwachsen wird, ob man will oder nicht. Abgesehen davon bin ich hochgradig allergisch gegen Pferde. Wenn also der Typ wirklich auf einem Apfelschimmel oder Palomino oder wie sonst die Klepper heißen heran geritten gekommen wäre – ich hätte meinen 50sten garantiert nicht erlebt.

Ob ich mittlerweile erwachsen geworden bin, habe ich noch nicht ergründet. Gewachsen bin ich an allem, das auf meinem Weg lag. Und irgendwie machte bislang alles, genau so, wie es passierte, einen Sinn. Kurz nach meiner Hochzeit vor fast 25 Jahren bin ich verzweifelt mit meinem neuen Ring zum Juwelier gegangen, denn es hatten sich Kratzer und eine kleine Beule auf ihm eingeschlichen. Er würde es nicht weg polieren wollen, sagte mir der Juwelier damals. „Wissen Sie, eine Ehe bekommt in den Jahren auch Kratzer und Beulen, das gehört irgendwie dazu“, sagte er mir. Er hatte Recht. Meine Ehe hat letztendlich den Kratzern und Beulen nicht standgehalten. Einige Jahre später kam eine neue Liebe zu mir. Wir warfen unsere Kratzer und Beulen zusammen. Wir schütten die Rucksäcke unserer gelebten Leben vor unseren Füßen aus und schauen, was und wie wir aus dem Inhalt lernen können. Oder wir lassen ihn friedlich so liegen, wie er ist. 

Die junge alte Liebe muss nun mit Niagarafällen Vorlieb nehmen. Und den Falten, dem gelebten Leben. In meinem Fall, weil ich die nett gemeinten Cremeproben zuhause immer nur für meine Hände verwende. Denn jede Falte spiegelt mein Leben wieder. Mein Lachen und mein Weinen. Meine Hoffnung und meine Mutlosigkeit. Meine schlaflosen und meine durchtanzten Nächte. In meinen Niagarafällen hat vor zwanzigirgendetwas mein Kind gewohnt. Es ist alles gut so, wie es ist. Ich finde, die Fünfzig und alles Folgende haben es verdient, gefeiert zu werden. Und ganz genau zu wissen: Es ist noch lange nicht genug.
Immer nur leben, nur leben
Keinen einzigen Tag vergeben
Alles genießen, jeden Atemzug
Und ganz genau zu wissen
es ist noch lange nicht genug

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Frohe Ostern und Guten Rutsch

1/4/2018

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Jetzt haben wir sie also. Endlich. Nicht, dass sie jemand in den vergangenen sieben Monaten vermisst hätte. Die GroKo. GroKo ist 2013 sogar zum Wort des Jahres erkoren worden. Meiner Meinung nach gab es das Wort 2012 noch gar nicht. Angela Merkel, oh ja, die gab es schon immer, die war ja an der Erfindung der Elektrizität beteiligt, aber GroKo? Fehlanzeige. Und welcher Meinung ich oder irgendwer zu diesem Zusammenschluss zweier Parteien bin oder ist, ist ziemlich unerheblich. Wichtig ist, dass man das Wort mit möglichst unergründlichem Gesichtsausdruck in irgendeinem Zusammenhang beiläufig fallen lassen kann, um unter Beweis zu stellen, dass man auf der linguistischen Höhe ist. 

Ich habe mir überlegt, dass ich künftig – um mich interessanter zu machen – nur noch in Abkürzungen formulieren werde. Was böte sich da besser an als eine KuGe? In meinem Blog mache ich mir fast täglich aufs neue Gedanken über meine Stadt, etwa über die BenOhBrü oder den TraVer Hann96. Auch das IhZen ist zentrales Thema oder die jetzt auf Dauer einspurige SchneWeBrü. Obwohl: Internationale Themen hören sich abgekürzt häufig besser an. POTUS klingt einfach toller als BuPräsi. Aber Sie sehen, durch die Verwendung derartiger Abkürzungen lässt sich erheblich Platz gewinnen.

Bei der Zeitung hieß es immer: Toller Text. Aber zu lang. Kürzen Sie mal fünfzig Zeilen. Von sechzig. Klasse Idee (KlaId). Nun, jetzt, mit den für mich neu entdeckten Abkü kann ich mich in einem einzigen Text zu allen möglichen Belangen äußern. Hat sich die Stadt eigentlich schon über die frühlingsaffine Mittelstreifenbepflanzung (MiStreiBe) auf der LavAll oder am LeibUf Gedanken gemacht? Wird das SprengMus dem Besucheransturm gewachsen sein, jetzt, da es MusDesJa geworden ist?

Fragen über Fragen. Bei all dem Sinnieren darf man natürlich das Osterfest nicht vergessen. Haben Sie schon alle LaMiGesch für Ihre Lieben? Kommen die possierlichen Tierchen, die ja jetzt TradHas heißen, womöglich wegen des SchleWe nicht in den Garten, um von Ihrem Nachwuchs gefunden zu werden, sondern gar als OstBra auf den Tisch? Oder gibt es bei Ihnen irgendwas mit Fisch (IMF)? KartSal mit Würstchen? Klingt alles lecker, oder reicht Ihnen etwa nichts (KALORIEN)? In diesem Sinne: Allen meinen Lesern FrOst. Und nicht vergessen: WSV (Weihnachten steht vor der Tür), also auch FroWei. Und GuRu.
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Jack. Wie in Jack Daniels

31/3/2018

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(mik) Geschichten, die mein Leben schreibt, erlebe ich häufig in Supermärkten. Es gibt vielleicht sogar eine Erklärung dafür. Ich meine, ich bin relativ öfter in einem Supermarkt zum Einkaufen, als etwa in einer Autowaschanlage oder beim Friseur – wer mich, mein Auto und meine Haare kennt, kann beides nachvollziehen.


Diese Geschichte spielt heute, zu Ostern, aber sie hat nur bedingt etwas mit Ostern zu tun. Obwohl – eigentlich doch, denn ohne die jährlich wiederkehrenden österlichen Hamsterkäufe meiner Mitbürger wäre ich gar nicht … aber von Anfang an. Und ich warne Sie – ich werde schwafeln. Gefühlte Lesezeit: Drei bis neun Stunden.


Ich hatte meine drei Teile beisammen, ja, auch ein viertes und ein fünftes, die ich beide nicht auf dem Einkaufszettel hatte, um ehrlich zu sein. Den hatte ich ohnehin vergessen mitzunehmen. Sie kennen das: Man schreibt akribisch auf, was man braucht, um ohne verhungern zu müssen oder den Hygienestandards nicht mehr zu entsprechen über die Feiertage zu kommen. Und lässt dann eben diesen Zettel zuhause liegen. Mit dem Ergebnis, dass man erstens doppelt soviele Dinge im Einkaufswagen hat wie geplant und eigentlich nichts von dem, was auf dem Zettel stand. Es gibt Basics wie Katzenfutter, Milch und Rotwein, aber ich bin jedesmal aufs Neue überrascht, was es so alles an Lebensmitteln gibt, die sich regelmäßig in meinem Kühlschrank zu materialisieren scheinen. Nun erliege ich nicht oft gerade den Künsten der Werbefachleute, was Verpackung oder Slogan angeht; ich achte eher auf Preis und Inhalt. Trotzdem, man kann nie wissen, ob der Käse mit Chili nicht superlecker ist oder ob der Birnen-Trauben-Ananassaft nicht völlig neue Geschmacksknospen anregt, also her damit. Einkaufen – eine Wissenschaft. Meine Wissenschaft. Dazu gehört selbstverständlich auch der richtige Zeitpunkt. Jetzt, zu Ostern, gibt es allerdings keinen richtigen Zeitpunkt. Ganz Hannover kauft ein, vorzugsweise dann, wenn ich es auch tue, und vorzugsweise im selben Geschäft. Wobei gefühlt auch halb Celle und dreiviertel Hildesheim in der Schlange an der Kasse steht – und zwar vor mir.


Im Supermarkt meines Vertrauens waren zwei Kassen geöffnet, eine dritte wurde gerade über ein Mikrofon angekündigt. „Sehr verehrte Kunden, wir öffnen Kasse drei für Sie. Bitte legen Sie Ihre Waren auf das Kassenband.“ Ich widerstand der Verlockung, mit meinem Wagen zu Kasse drei zu spurten, denn das Gesetz von Murphy sagt: Immer, wenn du die Kasse mit der vermeintlich kürzesten Warteschlange wählst, wird das die sein, an der es letztlich am längsten dauert. Rollen müssen gewechselt werden, die Fachkraft stellt erst tagelang irgendwelche Dinge an der Tastatur ein oder die ältere Dame vor dir bezahlt mit Cent-Münzen – so was in der Art. Ich blieb also, wo ich war, und betrieb Sozialstudien, während sich die Kassenschlangen bereits durch die halbe Südstadt wanden.


Die Kassiererin an Kasse zwei, meine Kassiererin, war offenbar Vollprofi – ist die korrekte Genderdeutschformulierung vielleicht „Vollprofiteuse“? – sie war hübsch und jung, mit frechem Kurzhaarschnitt, und hatte für jeden genervten Kunden – also jeden – ein freundliches Wort, während sie mit gleichzeitig geübten Bewegungen die jeweiligen Waren über den Scanner zog. Lächelnd und gleichzeitig, wohlgemerkt, es gibt sie also, die Menschen mit Multitaskingfähigkeit. Erstaunlich und absolut geschäftsfördernd: Es war fast greifbar, wie ihre gute Laune die Kunden ansteckte. Jeder, aber wirklich jeder wirkte an dieser Kasse entspannt, was sicher nicht allein dem Gedanken geschuldet war, dass man weiß, man hat ihn gleich hinter sich, den österlichen Einkauf. Und muss danach nur noch die Tonnen an Vorräten in den vierten Stock schleppen, um sicherzustellen, dass man notfalls einige Wochen überleben kann, ohne das Haus zu verlassen.


Als ich an die Reihe kam, zog meine Kassiererin meine Einkäufe über den Scanner. Plötzlich verharrte sie und sagte „Oh mein Gott“. Ich zuckte zusammen. Was hatte ich falsch gemacht? Stand meine Hose offen? Hatte sie mich auf dem Fahndungsfoto erkannt? Sie blickte mich an und erklärte fröhlich: „Gut, dass Sie da sind, ich hab vergessen, für Jack einzukaufen.“


Ich sah sie an, Sarah Lena, wie ich ihrem Namensschild entnahm, hatte mein Katzenfutter in der Hand – in der Hand, auf deren Rücken großflächig eine schwarze Katze tätowiert war. Ich fragte: „Ist das Jack?“ und deutete auf ihre Hand. „Das isser“, gab sie zurück, „Jack. Wie in Jack Daniels.“ Ich lächelte, während ich einpackte, und lächelnd erzählte ich ihr von meiner Katze. „Susi, wie in Susanne.“ Und ich sagte, Susi sei weiß. Sarah Lena lächelte zurück und meinte, „da brauchen Sie weniger Farbe.“ Das war lustig, ich zahlte lächelnd und lächelte auch beim Verlassen des Marktes. Ich glaube, ich habe auch mein Auto angelächelt, als ich aufschloss. Während ich diesen Text schreibe, lächele ich immer noch. Ich habe keinen Jack Daniels gekauft, ich habe Sarah Lena auch nicht gefragt, wo der kausale Zusammenhang zu ihrer Katze ist – die Erklärung hätte mich möglicherweise etwas verstört. Ich trinke gerade mein Glas Rotwein, hauptsächlich in der Ermangelung von Milch, denn die habe ich beim Einkaufen vergessen, und ich trinke es lächelnd auf Sarah Lena. Und auf alle Menschen, die mit einem Lächeln dafür sorgen, dass diese Welt trotz aller Widrigkeiten zu Ostern ein echt toller Ort ist.




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Gute Stube

26/3/2018

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(mik) Mein Großvater war ein stiller Mann. Ich kann mich nicht erinnern, ihn je mehr als einen Satz am Stück sprechen gehört zu haben. Ich kann mich allerdings an seinen Geruch erinnern, wenn wir meinen Großeltern am Sonntag einen Besuch abgestattet haben. Oma und Opa lebten in einem wirklich kleinen Dorf in der Nähe von Hannover. Und in der Nähe von Celle, um ehrlich zu sein. Also sozusagen zwischen zwei Metropolen. Und sie waren alt, ur-uralt - also etwa so alt wie ich jetzt. Mein Opa war wahrscheinlich an der Erfindung des Rades beteiligt, und meine winzige Oma - nun ja, sie bestand irgendwie nur aus Knitter und Kittelschürze. 

Im ganzen Haus duftete es nach Erdbeerkuchen, den meine Oma traditionell gemacht hatte. Und nach selbst eingelegtem Sauerkraut, das in einem Fass im muffigen Keller lagerte. Im ganzen Haus? Nein. Ein kleiner Raum leistete den Duftschwaden energischen Widerstand: die „Gute Stube“. Die gute Stube war das Wohnzimmer; sie war unserem sonntäglichen Besuch vorbehalten. Ansonsten blieb die Tür zur Guten Stube verschlossen; das gesellschaftliche Leben meiner Großeltern spielte sich in der Küche, im Keller und im Garten ab.


Sobald wir angekommen waren, und sobald der Kleinwagen meiner Eltern halbwegs zum Stillstand gekommen war, schossen wir Kinder wie zwei geölte Blitze ins Haus. „Oma, hast du Sauerkraut?“, pflegte meine Schwester zu rufen, „Oma, hast du Erdbeeren“, krähte ich, noch während meine Großmutter die Tür öffnete. Wir drängten uns an beiden vorbei, an Oma Ida in ihrer unvermeidlichen geblümten Kittelschürze, an Opa Paul in irgendwas mit Lederweste, meine Schwester auf direktem Weg in den Keller, ich zum Schrank in der Küche, wo die jeweiligen kulinarischen Verlockungen wie erhofft warteten – immer warteten.

Bis meine Eltern ihre Eltern gebührend begrüßt hatten, hatten wir Kinder die erste Gier bereits gestillt. Ich hatte das erste Stück Erbeerkuchen direkt aus der Hand verschlungen, meine Schwester tat Ähnliches mit ihrer Portion Sauerkraut. Es war das Paradies. Dann begann das rituelle Kaffeetrinken mit dem Öffnen der Tür zur Guten Stube. Das Paradies schrumpfte.

Kalter, abgestandener Zigarrengeruch und in der Nase beißendes Waschmittel, das war der vorherrschende Geruch in diesem mit dunklen Holz eingerichteten Raum. Höchstens einmal in der Woche wurde er geöffnet, freigegeben für die Familie aus der Stadt. Die schweren Brokatvorhänge wurden zurückgezogen, das gute Geschirr (mit dem Goldrand) wurde auf den Tisch gestellt, und wir nahmen Platz auf den ungemütlichen Stühlen, um dem gemeinsamen Kaffeetafelritual zu frönen.
Später, sehr viel später, wie es mir Pöks immer vorkam, sagte mein Großvater immer einen seiner wenigen Sätze. Die mir deshalb in Erinnerung geblieben sind, weil er eben so wenig sagte.

„Wenn ich wo wär', ich tät' jetzt gehen“, beispielsweise. Das nenne ich mal einen famosen Satz: Es blieben keinerlei Fragen offen. Wenn dennoch jemand gezögert hatte, das als Aufforderung, den Heimweg anzutreten, zu verstehen, fügte mein Opa noch einen zweiten Satz hinzu – sein äußerster Gipfel an Rhetorik. „Da, wo du jetzt sitzt, da leg' ich sonst immer meine Unterhose hin“, knurrte er in seinen Schnurrbart. Spätestens jetzt war allen klar, dass es Zeit war, aufzubrechen – höchste Zeit.
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Seit gestern bin ich übrigens ebenfalls Großvater – na ja, fast Großvater, also dreiviertel Großvater vielleicht. Die Tochter meiner Lebensgefährtin bekam ein Kind. Und ich werde die kommenden Jahre damit verbringen, meine Rhetorik zu reduzieren und mir nachhaltige Sätze für Matilda einfallen zu lassen. Und nachhaltige Gerüche. 
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Welt der  Wunder

10/1/2018

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(mik) Beim Stadtbummel trinke ich gerne einen dieser sündhaft teuren, schicken "Kaffees zum Gehen". Die heißen zwar nicht mehr Kaffee, aber ich hab' meine Dosis Koffein und eine warme Hand. Zu warm manchmal, deswegen nahm ich mir gestern morgen in einem Kaffeeladen am Bahnhof eins dieser gekreppten Pappdinger, das man um den Becher schlingt, damit es die Hitze abhält. Mir war wieder einmal die Bezeichnung für dieses Ding entfallen: Sagt man nun Manschette oder Hitzeschild oder Pappring oder was? 
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Beim weiteren Bummeln durch die eisige Innenstadt geriet ich mit angenehm warmer Hand ins Grübeln. Vor meinem geistigen Auge erschienen in kurzer Zeit lauter Dinge, deren Namen ich trotz meines leidlichen Schulabschlusses nicht kenne. Wie heißt dieser Pinökel, der am Ende eines Schnürbandes ist? Heißt das weiche Ding am Brillenbügel Nasenschoner? Wie nennt man das Teil, mit dem man am Toaster das Weißbrot reindrückt? Fragen über Fragen. Ich kam an einem Schuhgeschäft vorbei. Der Stofffitzel innen heißt Lasche, oder Schlaufe, oder Litze, oder so ähnlich, meinte ich mich zu erinnern. In dem Schuhladen hatten sie auch Gürtel. Schnalle ist klar, aber mir fiel ums Verrecken keine Bezeichnung für das Teil ein, das man ins Gürtelloch steckt. Ich komme zweifellos auch ohne dieses Wissen durch die Welt, aber ich lege normalerweise eine gewisse Arroganz an den Tag, was die Vielschichtigkeit meines Wortschatzes angeht. Im zweiten Satz dieses Absatzes habe ich etwa eine Präposition, gefolgt von einer Nominalphrase, benutzt. Aber niemand mag Schlaubatze.

Alle Lebenserfahrung, alles Halbwissen und alle Fremdsprachenkenntnisse halfen mir nicht bei meinen Überlegungen. Inzwischen war mein Kaffee, der nicht mehr Kaffee heißt, kalt genug geworden, so dass ich dieses Pinökel entfernen konnte. Wie, Sie wissen nicht, was ein Pinökel ist? Probieren Sie es aus, es passt immer. Nur nennen Sie bitte den Handballen unterhalb des Daumens nicht so. Der heißt Maus.

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Frau Kokolowski ist sauer

6/1/2018

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(mik) "Der kommt immer nur zu mir", sagt sie. Sie sitzt an Kasse 11 eines Supermarktes in der Südstadt.  Das Namensschild auf ihrer Uniform sagt mir, dass ich von Frau Kokolowski bedient werde. "Irgendwie immer nur zu mir." Früher, sagt sie, habe er seinen Sohn immer aufs Band gesetzt. "Aber jetzt ist der ja schon 14, 16, sowas." Seine Frau, sagt sie, habe sie auch lange nicht gesehen. "Die wohnt ja irgendwie in der Toskana." Er lebe ja wohl irgendwo am Maschsee, sagt Frau Kokolowski und wedelt mit meiner Käsetüte in Richtung ihrer Kollegin an Kasse zehn. "Also praktisch nebenan." Habe er ihr mal erzählt, sagt sie stolz. "Immer nur zu dir, stimmt", sagt die Kollegin neidisch. 

"Und heute kann ich's nicht sehen. Ich hab bis zehn. Und bis ich dann zuhause bin...", sagt Frau Kokolowski. "Aber egal, dann guck ich's eben im Internet." Es ist kurz nach sieben. Sie hat seit geraumer Zeit nichts von meinen Einkäufen gescannt, weil sie nur sinnierend in die Ferne schaut. 

"Sprechen die Damen über Herrn Gündogdu?", mutmaße ich aufs Geratewohl. Dieser - nicht nur mir wohlbekannte Musiker aus Hannover - hat heute seinen zweiten Einsatz im Fernsehen. Bei RTL. Muss ich mehr sagen?

"Nein, wir reden von Mousse T.", erwidert Frau Kokolowski entrüstet. Ihre langen, blonden Haare schwingen sanft hin und her, wenn sie den Kopf schüttelt. Meine Küchentücher hält sie wie versteinert in ihrer Hand. Ich versuche, ihre Hand mit Blicken über den Scanner zu zwingen - erfolglos. 

"Der ist schon ganz lange hier Kunde", sagt sie, "und er kommt immer nur zu mir." Sie schüttelt wieder mit dem Kopf, die Haare fliegen. "Ich gucke das nachher im Internet. Oder morgen, wenn's wiederholt wird."

"Nur wegen Mousse T., hoffe ich", wage ich einen Scherz. "Aber nein, aber nein, ich guck das schon seit Jahren. Seit, warten Sie mal" - sie legt die Stirn in Falten und überlegt. Inzwischen ist sie fast fertig mit Scannen. Jetzt sind es nur noch die Apfelsinen, die festgewachsen in ihrer Hand lagern, während sie denkt. 

"Seit Regner gewonnen hat", sagt Frau Kokolowski siegessicher. "Und ich dachte immer, der Mousse T., der könnte ja da auch mal in der Jury sitzen, dachte ich immer. So ein hübscher Mann."

Sie ist fertig. Fertig mit meinem Einkauf. Und fertig ob der Tatsache, dass sie ihn heute im Fernsehen verpasst. So fertig, dass sie mich nicht nach meiner Deutschlandcard gefragt hat. "Sie haben mich nicht nach meiner Deutschlandcard gefragt", sage ich. ""Haben Sie die Deutschlandcard?", fragt sie. "Nein", antworte ich. Und schiebe meinen Einkaufswagen beschwingt Richtung Ausgang. Warum nur, warum, habe ich jetzt "Sex Bomb" im Ohr? Egal, ich muss schnell nach Hause. Es gäbe da was in der Glotze ...
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Rauhnächte

28/12/2017

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(lil) Ob ich noch einen Pelzmantel aus dem Vermächtnis meiner Mutter hätte - diese Anfrage einer Freundin erreichte mich kurz vor Weihnachten. Der erste Abschlussball ihrer Tochter, und sie wünschte sich ein wenig Vintage über dem kleinen Schwarzen.

Natürlich habe ich. Meine Mutter war wahrlich keine Dame, die sich in edle Pelze hüllt, aber ich habe ihren einzigen Mantel,  den „Cockerspaniel“, aufgehoben. Ich hüte ihn wie einen Schatz. Er ist ungefähr 60 Jahre alt. Auf jedem Winter- und Schneeschipp-Foto aus den Fünfzigern, Sechzigern, Siebzigern hat sie ihn an. In den Jahrzehnten wurde er mehrfach umgeschneidert, und meine Mutter trug ihn wirklich bis zuletzt. Bis sie immer kleiner und dünner wurde und er sie fast erdrückte. Er hat die Farbe des Hundes, der ihm den Namen gab, er ist genau so gelockt, und an der ein und anderen Stelle trägt er Glatze. In einer ibizenkischen Hippiekolonie wäre ich - derart gewandet - die ungekrönte Königin. Kurz gesagt: Mein Herz hängt sehr an diesem Mantel, denn nichts verbinde ich so mit meiner Mutter wie den Cockerspaniel.
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Als ich ihn aus meinem Kabuff holte ("Kabuff, das", winziger Raum meiner Wohnung, in dem ich alles aufbewahre, was entweder unansehnlich ist oder anderswo nicht mehr hineinpasst), fasste ich natürlich in sämtliche Taschen. In der linken fand ich dann wirklich einen Schatz. Er war mehr wert als ein Goldbarren oder ein Brillantcollier. Es war ein Einkaufszettel meiner Mutter. 

Ich musste heulen. Ich griff in die rechte Tasche. In der steckte passenderweise ein Tempotaschentuch - nicht, dass mich das gewundert hätte. 

Ach ja, Tempo. Meine Mutter hatte in nahezu jeder Jackentasche ein Tempo. Es war quasi ihr Markenzeichen. Zum einen tränten ihre Augen mit zunehmendem Alter beim leisesten Windhauch, zum anderen brach sie beim geringsten Anlass in Tränen aus. Mein Gott, sie IST aber auch sentimental, seufzte ich zu ihren Lebzeiten in mich hinein. Und ich schämte mich manchmal dafür – wofür ich mich heutzutage schäme. Ich erklärte mir ihre sentimentalen Anflüge damit, dass sie es ja schwer gehabt hatte im Leben. Krieg, Flucht, Neubeginn, der Heinrich, der impulsive Mann, ich, die Lilly, das impulsive Kind, und sie, die Zartbesaitete, mittendrin.


Zartbesaitet – eine Eigenschaft, die ich zunehmend auch mir zuschreibe, ob ich will oder nicht. Jetzt, in den Rauhnächten, ist es Zeit, diesen Saiten ein paar Seiten zu widmen. Für die Rauhnächte - so nennt man die zwischen Weihnachten und dem 6. Januar - finden sich in der Literatur viele Interpretationen. Für mich ist es eine Zeit, innezuhalten. Der Rückblick auf das Vergangene und der Versuch, mir vorzustellen, was die Zukunft bringt.

Das geht selten ohne Taschentuch. Traditionell öffne ich die Schleusen am Heiligen Abend in der Kirche - wenn die Lichter ausgehen ganz am Ende und die „Stille Nacht“ ertönt. Gelingt es mir, mindestens die dritte Strophe mitzusingen, ohne dass sich die anderen Kirchgänger irritiert umsehen, weil sie auf der Suche nach einem Schlosshund sind, sitze ich mental relativ fest im Sattel. In diesem Jahr saß ich so mittel. Immerhin bin ich bei „…tönt es laut von fern und nah“ wieder eingestiegen.


Am ersten Weihnachtstag wollte ich meiner Tochter meinen Lieblings-Weihnachtsfilm „Ist das Leben nicht schön“ schildern: Wie sich Clarence, der Engel, seine Flügel damit verdient, dem lebensmüden George Bailey den Sinn des Lebens aufzuzeigen. Allerdings konnte ich vor Schluchzen nicht einmal diesen Satz vollständig formulieren. Meine Tochter – ich sah es an ihrem Blick. Ich sehe es immer - seufzte in sich hinein: Mein Gott, sie IST aber auch sentimental.

Ja, bin ich. Denn sentimental bedeutet: ich fühle, nehme wahr, verstehe, bemerke, erkenne. Es erscheint mir wichtiger denn je. In einer Welt, in der protestgewählte Parteivertreter erklären, die Sonne sei am Klimawandel schuld. In einer Welt, in der Präsidenten empfehlen, wie und an welcher Stelle man Frauen am besten berührt. In einer Welt, in der verbale Ausfälle in sozialen Netzen hoffähig zu sein scheinen.

Lasst uns froh und munter sein. Und lasst uns sentimental sein. Jetzt, im Winter. Und im Frühling, im Sommer und im Herbst. Frohes neues Jahr!
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Fürchtet Euch nicht

12/12/2017

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(mik) Gestern stand ich an der Kasse eines Supermarktes in der Südstadt. Ich war mit Bezahlen dran; in der Schlange hinter mir gab es Bewegung. „..hab nur eins“, hörte ich jemanden sagen, und ein Mann, der wenig weihnachtlich anmutete, drängelte sich mit einer Flasche Bier an den Wartenden vorbei. Sein Parka, sein kariertes Hemd und seine rutschende Hose wiesen ihn zweifelsfrei als jemanden aus, mit dem es das Leben nicht eben gut meint. Er sah ein wenig aus wie der junge Günther Netzer. Als er sich an mir vorbei schob, sah ich glasige Augen und roch – jedenfalls keine Weihnachtsgerüche.

Hinter mir stand ein gut gekleidetes Paar, und der Mann murmelte: „Wir haben auch nur drei Teile.“ Seine Frau stieß ihn an und flüsterte: „Lass gut sein, Paul.“ Netzer holte einen zerknitterten Fünf-Euro-Schein aus der Hosentasche und lallte leise „und noch 'ne Marlboro.“

„Das macht fünf Euro zwei“, sagte die Kassiererin. Das Schweigen in der Schlange wurde plötzlich greifbar. Es war ziemlich klar, was jeder dachte. Fünf Euro zwei ... das sind genau zwei zuviel. Dann sagte Paul, der Mann hinter mir, laut „Ich übernehm‘ das“, die Kassiererin gab sich mit den fünf Euro zufrieden und Netzer wankte mit seinem Bier und den Zigaretten zum Ausgang. Als er sich umdrehte, um relativ konsonantenfrei zu sagen: „Sie sind ein guter Mensch“, waren seine Augen für einen kurzen Moment nicht mehr glasig.

Vielleicht habe ich mir das auch nur einbilden wollen, aber nichtsdestotrotz wurde mir plötzlich sehr warm. Ziemlich abwesend gab ich der Kassiererin danach mein Geld und erinnerte mich kurz an die wunderbare Weihnachtsgeschichte von Hanns Dieter Hüsch, 'Paul auf den Bäumen', in der ein Obdachloser seine ganze Verzweiflung auf die Wände eines Zugwaggons schreibt, auf denen am nächsten Morgen nur noch steht: "Fürchtet Euch nicht."

Was der Schnee am zweiten Advent nicht geschafft hat, und was all' die Werbespots mit besinnlicher Musik nicht hinkriegen, was nicht mal 'Drei Nüsse für Aschenbrödel' gelingt, ist einem zottelhaarigen angebreiteten Typ mit Bier und Fluppen gelungen: Mir wurde weihnachtlich. Und ich verbrachte einen Großteil des gestrigen Abends damit, darüber nachzudenken, ob Netzer im karierten Hemd vielleicht in Wahrheit ganz jemand anders war.
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